In einer verlassenen Hütte findet Emilia ein Fangbuch. Die Einträge lassen sie vermuten, dass es außer einer fantastischen Fischerei auf Bachforellen noch mehr in dieser einsamen Gegend zu finden gibt. Und je mehr sie in dem Fangbuch liest, desto stärker wird die Gewissheit: Sie ist nicht allein!
Angenehm und guten Tag! Herr Piscator empfindet es als ein wenig unfreundlich, würde diese Geschichte hier vorgelegt, ohne ein Wort der freundlichen Warnung. Wir sind dabei, die dunklen Geschichten des Fliegenfischens offenzulegen. Geschichten, die Frauen und Männer der Wissenschaft zweifeln lassen und Gott in Frage stellt. Sie sind die befremdlichsten Geschichten, die jemals erzählt wurden. Sie handeln von den großen Mysterien des Fliegenfischens: Fische, Fischen, das Leben und – der Tod. Ich denke, sie werden Dich erschauern lassen. Vielleicht können sie schockieren.

Sie vermögen Dich sogar zu entsetzen. Also, wenn jemand von euch das Gefühl hat, er habe kein Interesse, seine Nerven solchen Belastungen auszusetzen, nun ist die Gelegenheit um – nun ja, wir haben Dich gewarnt.

Das Fangbuch
Emilia öffnete die Gurtschnallen ihres Rucksacks und ließ diesen dann auf den Boden der Terrasse fallen. Die überdachte Terrasse war aus Holz gefertigt, die dazugehörige kleine Hütte besaß allerdings Wände und Dach aus Wellblech. Als der Rucksack umfiel, ratterte das Aluminiumrohr der Rute scheppernd an einer der Wellblechwände entlang und kam neben dem Stapel Kaminholz zu liegen. Von dem Lärm aufgeschreckt, flog ein Korimako krächzend aus einem Strauch davon.
Drei Tage war Emilia zu Fuß unterwegs gewesen. Auf ihrem Weg zur Hütte hatte sie in den Nächten im Zelt geschlafen. Die Richtung hatte ihr die neue Smartwatch angezeigt, die sie sich extra für diesen Trip gekauft und mit den Koordinaten gefüttert hatte. Ein gut befreundeter Besitzer eines Fliegenfischen-Shops hatte ihr den Tipp gegeben: eine abgelegene Hütte und ein unfassbar schöner Fluss mit Bachforellen gleich nebenan.
„Die Hütte gehört eigentlich dem Department of Conservation“, hatte ihr Freund gesagt, „aber die nutzen sie schon lange nicht mehr. Wer nicht weiß, wo die Hütte liegt, wird sie auch nicht finden.“
Mit ihren Fingern strich Emilia über das stark verwitterte grüne Schild, auf dem nur noch die ersten drei gelben Buchstaben „Mar“ zu lesen waren. Ein Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Die kommenden acht Tage würden ganz im Zeichen des Fliegenfischens stehen und niemand außer ihr würde an dem Fluss sein.
Blut tropfte auf die Holzdielen.
Nachdem Emilia ihren Rucksack in die Hütte geschleift, Schlafsack ausgepackt und auf dem vorhandenen Feldbett ausgebreitet hatte, machte sie sich daran, das Abendessen zuzubereiten. Während das Porridge auf der Herdplatte des antiken gusseisernen Ofens köchelte, erkundete Emilia die drei Räume der Hütte. Zwei Schlafkammern, beide mit kleinen Fenstern, und der Wohnraum, der gleichzeitig auch Küche war. An einem Fenster des Wohnraums stand ein schlichter Holztisch. Zwei ebenso schlichte Holzstühle, von denen einer nur noch drei Beine hatte. Emilias entdeckte eine Schublade am Tisch. Da dort, wo ein Griff hätte sein soll, nur noch eine ausgefranste Bohrung klaffte, versuchte Emilia die Schublade an den Seiten mit ihren Fingern herauszuziehen. Es gelang ihr nicht sofort, denn offenbar hatte sich die Schublade verkeilt. Bei dem Versuch es mit mehr Kraft zu probieren, rutschte Emilia ab und riss sich den Fingernagel am linken Ringfinger ab. Blut tropfte auf die Holzdielen. Mit dem blutenden Finger im Mund holte Emilia ihr Multitool aus dem Rucksack, klappte die Messerklinge aus und hebelte am Rand der Lade herum. Diese gab plötzlich ein leises Knarzen von sich und sprang ein paar Zentimeter auf. Der Geruch von alten Büchern stieg Emilia sofort in die Nase. Im Schatten der Tischplatte erkannte Emilia die Umrisse eines Journals oder kleinen Buches. Sie schaffte es, die Schublade noch weitere Zentimeter herauszuziehen, doch dann blockierte diese vollständig. Mit ihrem Zeigefinger versuchte Emilia das Büchlein näher an den Spalt zu ziehen, was ihr auch schließlich gelang. Mit der Messerspitze stieß sie zwischen die Seiten des Büchleins, hob es so an, bis Emilia den Buchrücken zu fassen bekam. Auf dem mit dunkelbraunen Leder eingebundenen Buch stand in goldener geschwungener Schrift „Fangjournal“. Als Emilia das Buch aufschlug, fiel ihr fast eine Fliege herunter, die sie aufnimmt und genauer betrachtet. Eine bräunliche „Kakahi Queen“ in Größe 12 oder 14. Der rötlich schimmernde Hechelkranz ist platt gedrückt und der Haken zeigt leichten Flugrost. Emilia legt die Fliege auf den Tisch, zieht den Stuhl mit dem kompletten Satz an Beinen näher an den Tisch und setzt sich. Sie blättert weiter in dem Büchlein.
Sah heute Morgen in der Ferne eine Person.
Erst als Qualm ihr in den Augen brennt, springt Emilia auf und versucht ihr Porridge zu retten – vergeblich. Sie bringt den Topf mit dem angebrannten Essen vor das Haus, öffnet alle Fenster und setzt sich zurück an den Tisch. Auf die Ellenbogen gestützt, liest Emilia die nächsten Seiten in dem Buch. Bisher fand sie noch keinen Hinweis, wer die schreibende Person gewesen ist. Da die Schrift sich nicht zu verändern scheint, war es wahrscheinlich aber nur eine Person. Diese hat minutiös Wetterdaten, Wassertemperatur, Insektenaufkommen, verwendete Fliege und ihre Bindeanleitungen, Länge und Gewicht der gefangenen Bachforellen aufgeschrieben. Zudem Angaben zur Ausrüstung: Rutenmodell, Rolle, Flugschnur, Vorfachmaterial. Auch die Fangsituationen wurden aufgeschrieben. Emilia konnte sich durch die vielen Details genau vorstellen, wie die Person stromauf oder -ab fischte; die Trockenfliege, wie sie in einem strömungsberuhigten Bereich plötzlich von einem Fisch von der Wasseroberfläche geschnappt wird. Auch andere, nicht zwingend in ein Fangbuch gehörende Details liest Emilia. So zum Beispiel der Eintrag zu einem Tui, der beim Fischen allgegenwärtig war und mit der Zeit immer zutraulicher wurde. Und die Begegnung mit einem kapitalen Rothirsch, der den Fluss an einer seichten Stelle überquerte.

Als es Emilia immer schwerer fiel die Einträge zu lesen, holte sie ihre Stirnlampe und setzte das Lesen fort. Nach weiteren Seiten mit detaillierten Beschreibungen von „Twilight Beautys„, „Brownstones„, „Raggy Duns„, „Speckled Brown“ und vielen anderen Mustern, kommt Emilia die plötzliche Erwähnung eines anderen Menschen sehr unwirklich vor. Sie las den mit blauer Tinte vorgenommenen Eintrag:
Sah heute Morgen in der Ferne eine Person. Sie schaute zu mir herüber, als ich zum Fluss lief. Obwohl ich mit einer Hand winkte, zeigte die Person keine Anzeichen einer Erwiderung meines Grußes. Am Flussufer angekommen schaute ich noch mal in die Richtung der Person, aber der Morgennebel hatte sie bereits verschluckt.
Jetzt rief ich ihm hinter, er solle warten und was er wolle, aber es blieb still.
Emilia holte tief Luft – sollten hier in der Ecke doch Menschen leben? Der Eintrag war laut Datum mehr als zwanzig Jahre alt. Bis auf die Hütte hatte Emilia keine weiteren Hinweise auf anderes menschliches Wirken gesehen. Und um die Hütte hatte sich auch keiner mehr seit Ewigkeiten gekümmert. Emilia blätterte um und las weiter:
Band Fliegen auf der Terrasse. In der Ferne stand auf einmal wieder diese Person. Ich schätze, rund 1.000 Meter lagen zwischen uns. Groß, vielleicht über zwei Meter. Breites Kreuz. Sah aus, als trug sie eines dieser regional typischen grünen Bushshirts aus Wolle. Gesicht konnte ich wegen der aufgesetzten Kapuze nicht erkennen. Ob sie etwas in den Händen hielt, sah ich auch nicht. Lange blickte ich die Person an – Nichts. Ich rief ein „Hallo“, wieder keine Antwort. Ich ging in die Hütte, um mir einen Tee zu machen. Als ich zurück auf die Terrasse kam, war die Person fort.
Trotz der Dunkelheit schaute Emilia in die Richtung, von der sie gerade im Journal gelesen hatte. Sie hatte auch schon ihren Teil an skurrilen Begegnungen gemacht, aber auch sehr herzliche und hilfsbereite Menschen – besonders am Rande der Zivilisation – getroffen. Sie blätterte zum nächsten Eintrag. Unübersehbar und mit festem Druck stand auf der Seite oben geschrieben:
JEMAND WAR AN DER HÜTTE!
Emilia zog sich ihre Fleecejacke aus und warf sie in Richtung Feldbett. Mit der Spitze ihres Zeigefingers suchte sie den Anfang des eigentlichen Eintrags, fand diesen und begann weiterzulesen:
Heute Morgen fand ich die noch nassen Spuren vor der Tür. Deutliches Profil von schweren Arbeitsschuhen oder -stiefeln. Riesig! Ich trage 46 und meine Füße sahen daneben klein aus. Ich bin die Hütte abgelaufen und musste feststellen, dass unter dem Fenster zu meinem Schlafraum zwei abgebrannte Streichhölzer lagen. Ich benutze keine Streichhölzer, habe immer einen Feuerstahl dabei. Was zum Teufel will der Kerl? Bei den Maßen gehe ich doch sehr stark von einem Mann aus. Was soll ich tun?
„Was hätte ich getan?“, fragte sich Emilia. Sie war sich ebenfalls sicher, dass aufgrund der Statur der Unbekannte männlich gewesen sein muss. Wie auch der Autor, der zwar sehr leserlich schrieb, aber nach Emilias Ansicht kein flüssiges Schriftbild zustande brachte. „Was hast du getan?“, wollte Emilia laut wissen und schlug die nächste Seite auf. Ihr Zeigefinger flog förmlich unter den Wörtern entlang, als sie mit weit offenen Augen das Geschriebene erfasste:
Den ganzen Tag sah ich den Mann nicht. Erst am Nachmittag nahm ich ihn aus dem Augenwinkel flussaufwärts stehend wahr. Da war er, wieder mit übergezogener Kapuze, Gummistiefeln, dreckigen Jeans (?) und beide Hände in die Taschen seines Bushshirts gesteckt. Aus einer Entfernung von diesmal gut 500 Metern schaute er in meine Richtung. Ich schaute zurück. Es wurde mir schnell zu blöd, kurbelte die Flugschnur ein und ging entschlossen auf ihn zu. Keine Reaktion seinerseits. Erst als ich schätzungsweise 100 Meter auf ihn zugegangen war, ging er plötzlich ein paar Schritte zurück. Ich ging weiter. Da drehte er sich um, lief zügig auf einen Hügel zu, hinter dem er verschwand. Jetzt rief ich ihm hinter, er solle warten und was er wolle, aber es blieb still.
Mit einem lauten Schrei trat sie jetzt gegen die Schublade, …
Emilia blickte auf und fokussierte den hellen runden Kreis an der Wand, den ihre Stirnlampe dorthin warf. Der Kreis bewegte sich unruhig, um den eigenen Mittelpunkt kreisend. Emilia zog Luft tief durch ihre Nase ein und atmete dann langsam über den Mund wieder aus. Ein – aus, ein – aus, ein – aus. Der Lichtkreis an der Wand hörte auf zu zittern. Bisher hatte Emilia leise gelesen, aber den nächsten Eintrag trug sie mit fester lauter Stimme vor, so als säßen zuhörende Menschen mit ihr in der Hütte:
Drei Tage lang habe ich versucht den Mann zu stellen, aber ohne Erfolg. Ich sah ihn in den letzten Tagen nicht einmal. Mir kommt es vor, als wüsste er, was ich vorhabe. Sollte ich meinen Aufenthalt beenden? Der Kerl versaut mir das Fischen. Was will er? Seit unserer Begegnung am Fluss schlafe ich nur noch unruhig und komme nicht mehr in den Tiefschlaf. Ich habe mich entschieden – jetzt ist schon zu dunkel, aber mit Anbruch der Morgendämmerung bin ich weg …
„Gute Entscheidung“, sagt Emilia, leise und mehr zu sich selbst. Um sicherzugehen, dass der Verfasser der Einträge auch tatsächlich am nächsten Tag sich auf den Heimweg gemacht hatte, blättert sie eine Seite weiter. Dort sollte jetzt nichts mehr stehen – weder Fang- noch Tagebucheintrag. Aber auf der Seite steht etwas geschrieben. Emilia zog hörbar Luft durch den leicht geöffneten Mund ein und hielt sie in den Lungen. Immer wieder las sie die sechs Worte:
Er steht direkt vor der Hütte
Emilia fiel die veränderte Handschrift auf. Noch immer derselbe Schreiber, aber die Buchstaben, der Schreibwinkel flacher. Wie von jemandem, der es eilig hatte. Es ist der letzte Eintrag. Emilia blätterte weiter und weiter, aber die nachfolgenden Seiten blieben alle leer.
Laut klappte sie das Büchlein zu und schob es durch den Spalt zurück in die Schublade. Mit einem Handball drückte sie gegen die Vorderseite der Lade, aber die bewegte sich nicht. Emilia sprang auf, dabei stieß sie den Stuhl um. Mit einem lauten Schrei trat sie jetzt gegen die Schublade, die sofort im Tisch verschwand.
Wieder leerte Emilia geräuschvoll ihren blutgefüllten Mund auf den Boden aus.
Emilia schaute auf ihre Uhr. Noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang. Im Licht ihrer Stirnlampe begann sie den Schlafsack wieder in den Kompressionsbeutel zu stopfen und ihren Rucksack zu packen. Fast fertig wollte Emilia den noch vor der Hütte stehenden Porridge-Topf holen. Sie öffnete die Tür und da – 600 Lumen erleuchteten die Gestalt einer sehr großen Person. „Der passt gar nicht durch die Tür“, schießt es Emilia noch durch den Kopf. Ansatzlos und unfassbar schnell überbrückte der Hünenhafte die zwei Meter vom Rand der Terrasse zur Tür. Bevor Emilia was sagen, geschweige denn sich bewegen konnte, traf sie ein Schlag auf Höhe des Wangenknochens. Durch die enorme Wucht des Schlags stolperte Emilia rückwärts und ging in der Mitte des Raums auf die Bretter. Blut sammelte sich in ihrem Mund. Blut lief aus der Nase und tropfte auf ihr hellblaues Funktionsshirt, wo es sich zu untertellergroßen Flecken sammelte.

Emilia fasste sich an die geschlagene Wange, nur um die Hand sofort wieder zurückzuziehen. Auf einen Ellenbogen gestützt, richtete Emilia den Oberkörper auf. Sie spuckte das Blut aus ihrem Mund und richtete dann ihren Blick auf die offene Tür. Da stand dieser Kerl. Genau wie im Journal beschrieben: grünes Busshirt, zerschlissene fleckige Jeans, die in schweren Arbeitsstiefeln steckte, die Kapuze weit über den Kopf gezogen. Unter der Kapuze schlängelten sich fettige Haarsträhnen hervor und Emilia meinte, dichten Bart zu erkennen. Sein Gesicht konnte sich nicht sehen. Der massige Körper des Mannes blockierte die gesamte Tür.
Als ihr Angreifer den Kopf einzog, um durch die Tür zu treten, stieß Emilia sich mit ihren Beinen weiter nach hinten. Im Rücken spürte sie das Transportrohr, welches sie an der Seite ihres Rucksacks befestigt hatte. Wieder bewegte sich dieser Riese von Mann schnell und geschmeidig auf Emilia zu, packte sie mit seiner linken Hand am Hals und hob sie hoch. So hoch, dass ihre Füße den Boden nicht mehr berührten. Instinktiv griff Emilia mit ihren beiden Händen nach der Hand, die sie fest umklammert hielt. Sie war aber nicht in der Lage, den Griff des Mannes zu lösen, nicht einmal zu lockern. Sie rang nach Luft, und als sie stark zu Husten anfing, spuckte sie das im Mund nachgeflossene Blut in das Gesicht des Mannes. Daraufhin schleuderte dieser Emilia mühelos durch den Raum und gegen die Küchenzeile. Emilias Brustkorb prallte mit einem dumpfen Ton gegen den Herd. Der Aufprall presste schlagartig die Luft aus Emilias Lungen. Sie musste keuchen. Bevor sie ihr Gleichgewicht fand, fiel sie bäuchlings auf den Boden. Die Stirnlampe war ihr vom Kopf gerutscht und lag auf dem Herd. Der Lichtkegel erhellte die Unterseite des Daches. Blutstropfen auf der Linse verliehen dem Lichtstrahl einen Rotfilter. Emilia drehte ihren Kopf zu dem Mann und sah noch, wie er sich mit dem linken Jackenärmel das Blut aus dem Gesicht wischte. Dann drehte er seinen Kopf langsam in ihre Richtung.
Wieder leerte Emilia geräuschvoll ihren blutgefüllten Mund auf den Boden aus. Und wieder kam der Mann auf sie zu, aber dieses Mal deutlich langsamer. Als er direkt über Emilia stand, hob er sie wieder einhändig auf. Sein Griff war fest, aber er schnürte ihr die Luft nicht ab. Wie in Zeitlupe hielt er Emilia am ausgestreckten Arm immer höher, bis ihr Kopf fast das Wellblechdach zu berühren schien. Er neigte seinen Kopf leicht zur rechten Seite, als er Emilia betrachtete.
Erst als nur noch eine Masse aus Haaren, Hirn und Schädelsplittern übrig war, endete das Zuschlagen.
Da holte Emilia auf einmal mit ihrem rechten Arm aus. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte eine polierte Klinge im Licht der Stirnlampe auf. Mit einem lauten Schrei und aller Kraft stieß Emilia die Messerklinge in den Kehlkopf ihres Gegners. Die rund 15 Zentimeter lange Klinge drang bis zum Griffansatz in den Hals ein. Emilia wartete keine Reaktion ab, zog die Klinge sofort wieder heraus, um sie sofort in das linke Auge ihres Angreifers zu stoßen. Jetzt löste sich der Griff von Emilias Hals. Sie landete auf ihren Füßen, sprang auf den Mann zu und stieß mit einem Schrei die blutverschmierte Klinge auch in das rechte Auge des Hünen. Dieser gab keinen Laut von sich. Aber er hielt jetzt seine Hände vor sein Gesicht und ging auf die Knie. Blut floss aus den Augenhöhlen und der Halswunde auf sein Bushshirt, über die Jeans, auf die Dielen. Sein Atmen verursachte jetzt ein röchelndes Geräusch. Noch während er auf die Knie fiel, positionierte Emilia sich mit einem schnellen Schritt hinter den Verwundeten. Mit der rechten Hand riss sie ihm die Kapuze herunter, packte dann sein langes Kopfhaar und zerrte seinen Kopf in den Nacken. Dies geschah so schnell, dass der Mann den kommenden Schnitt nicht verhindern konnte. Mit einem Ruck schnitt Emilia den Hals über dessen volle Breite auf. Sofort schoss Blut aus der Wunde und ergoss sich über das Messer und Emilias Hand. Sie trat dem Verblutenden kraftvoll in den Rücken, der dadurch nach vorn viel. Am Boden liegend hatte er sich an die Schnittwunde am Hals gefasst. Ein lautes Röcheln war zu hören, aber die Atmung wurde flacher und langsamer.
Emilia wischte das Blut am Messer an ihren Trekkingshorts ab und steckte es zurück in den Holster, der unter der langen dicken Wollsocke versteck gewesen war. Sie lachte. „Weißt du Arschloch“, fing Emilia an, den stark Blutenden anzusprechen, „dass viele dich für einen Mythos halten? Eine moderne Legende; aber als mein Bruder nicht pünktlich von seinem Fischtrip zurückkam, ahnte ich bereits, dass ihm was passiert sein musste. Und als wir ihn dann auch nicht mehr finden konnten, war ich mir sicher, dass ihm etwas Schreckliches zugestoßen war.“ Emilia trat mit voller Wucht in die rechte Niere des immer noch Röchelnden. Er zeigte keine Reaktion, die auf Schmerz hingedeutet hätte. Seine Hände hielten aber die Halswunde nicht fest und lagen jeweils links und rechts am Kopf. Der Ärmel am linken Arm war hochgerutscht und gab die Sicht auf das muskulöse Handgelenk des Sterbenden frei. Emilia sah ein Armband. Es war aus alten Flugschnüren geflochten und ein silberner Anhänger in Form einer springenden Bachforelle war daran befestigt. Die Forelle, die Emilia extra bei dem ortsansässigen Goldschmied hatte anfertigen lassen. Ein Unikat für ihren Bruder anlässlich seines 50. Geburtstags. Tränen sammelten sich in Emilias Augen. Dann holte sie den dreibeinigen Stuhl und schlug damit auf den Schädel des Mörders ein. Immer wieder schlug Emilia zu. Ein weiteres Stuhlbein löste sich und rollte über die Dielen. Erst als nur noch eine Masse aus Haaren, Hirn und Schädelsplittern übrig war, endete das Zuschlagen.
Eine Woche später, Emilia war wieder zurück in ihrer Wohnung, nahm sie sich ein altes Fangjournal ihres Bruders und fing an zu notieren:
Art: Scheißkerl
Größe: 7,38 Fuß
Gewicht: ca. 390 Pfund

