David möchte unbedingt diese Nymphen kaufen. Die Nymphen, die ihm als der Äschenmagnet schlechthin vorgestellt werden. Aber kann er den Preis dafür auch zahlen?

Angenehm und guten Tag! Herr Piscator empfindet es als ein wenig unfreundlich, würde diese Geschichte hier vorgelegt, ohne ein Wort der freundlichen Warnung. Wir sind dabei, die dunklen Geschichten des Fliegenfischens offenzulegen. Geschichten, die Frauen und Männer der Wissenschaft zweifeln lassen und Gott in Frage stellt. 

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Sie sind die befremdlichsten Geschichten, die jemals erzählt wurden. Sie handeln von den großen Mysterien des Fliegenfischens: Fische, Fischen, das Leben und – der Tod. Ich denke, sie werden Dich erschauern lassen. Vielleicht können sie schockieren. Sie vermögen Dich sogar zu entsetzen. Also, wenn jemand von euch das Gefühl hat, er habe kein Interesse, seine Nerven solchen Belastungen auszusetzen, nun ist die Gelegenheit um – nun ja, wir haben Dich gewarnt.

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Der Äschenmagnet

„Ich will zwanzig ihrer besten Nymphen kaufen. Die, mit dem natürlichen Material aus Darm.“ Während er das sagt, wedelt David mit der linken Hand, in der sich seine Geldbörse befindet. Der so angesprochene Mann macht keinerlei Anzeichen einer Reaktion. Er watet ein paar Schritte weiter, nur wenige Meter entfernt von der Stelle, wo David immer noch gestikulierend am Ufer steht.

„Hey, haben sie nicht gehört, was ich gesagt habe?“ versucht David eine erneute Kontaktaufnahme. „Ich zahle auch gut – sagen sie mir ihren Preis.“ Der Mann im Wasser holt in Achterschlaufen seine Schnur ein. Als das Vorfach zu erkennen ist, wirft er die Schnur quer zur Strömung aus und lässt die Nassfliege abtrieben. Mit seinem weißen Vollbart, den hellgrauen, kurzen Haaren und seinem Sakko aus Tweed sieht er aus, als wenn Sigmund Freud zum Fliegenfischen in die Zukunft gereist sei. Nachdem die Fliege vollständig herumgetrieben ist, holt er wieder die Schnur in Achterschlaufen ein. Das Vorfach erkennend, wirft er erneut. Dieses mal geht er zusätzlich drei, vier Schritte flussabwärts, vorsichtig auf den Steinen balancierend.

David verfolgt das Ritual des Einholens und Auswerfens der Schnur eine ganze Weile. Mittlerweile hat der alte Fliegenfischer mehrere Meter Distanz zwischen sich und David gebracht. Gereizt von der Ignoranz des Alten geht David ihm hinterher. Als er mit ihm auf gleicher Höhe ist, beginnt er unversehens ins Wasser zu Waten. Im selben Augenblick hebt der Mann seinen Rutenarm zügig hoch. Das Nicken in der gekrümmten Rute signalisiert deutlich das erfolgreiche Haken eines Fisches. David, der sofort stehen bleibt, als der Mann den Haken setzt, verfolgt nun das Ausspielen des Fisches. Nachdem der Fisch, eine ungewöhnlich große Äsche von schätzungsweise fünfzig Zentimetern, sicher gelandet ist, watet David weiter auf den Mann zu. Die Rute unter den linken Arm geklemmt und mit der linken Hand den Fisch im Wasser haltend, löst der Alte mit einer Arterienklemme und einer kleinen Bewegung der rechten Hand den Haken vom Maul. Einen kurzen Moment verweilt die Äsche in der jetzt offenen Hand des Fischers, bevor sie mit zwei, drei kräftigen Schlägen der Schwanzflosse flussaufwärts verschwindet.

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Der Freudsche Fischer streckt sich und betrachtet nun die Fliege, die immer noch von der Arterienklemme gehalten wird. Mit einigen wenigen Schritten verkürzt David weiter den Abstand zwischen sich und dem Alten. Jetzt kann er deutlich die Fliege erkennen. Es ist eine Nymphe mit einem Goldkopf. Direkt hinter der Perle ist ein Kragen aus Pfauengras gebunden. Aber das für David eigentlich Faszinierende ist der Körper bzw. das Material, mit welchem der Körper der Nymphe geformt wurde. Das nasse Material hat einen hellen, cremefarbenen Grundton und ist leicht durchscheinend.

Zum ersten Mal sieht David diese Fliege in einer Fliegendose bei Owen, einem Fliegenfischer, den er vor ein paar Tagen an diesem Fluss trifft. Die Beiden tauschen sich über das Fischen und die lokal üblichen Muster aus. Das eine Nymphenmuster bezeichnet der ortskundige Owen als Äschenmagnet.

Als er Davids skeptischen Gesichtsausdruck sieht, nimmt er eine seiner letzten vier Muster aus der Dose und hält diese unter Wasser. Er hebt die Fliege nach kurzer Zeit wieder aus dem Wasser, betrachtet sie, um sie dann wieder ins Wasser zu halten. Das wiederholt sich noch zweimal, bevor er zufrieden die nun durchnässte Nymphe David mit der flachen Hand entgegenhält. „Bestes Naturmaterial“, sagt Owen noch erklärend.

Und David staunt nicht schlecht. Dass Aussehen der Fliege hatte sich stark verändert. Die zuvor schlicht cremefarbene Wicklung ist nun durchscheinend und verleiht dem Muster ein sehr natürliches Aussehen. „Ich verstehe“, murmelt David. „Was willst du für die vier Nymphen?“, fragt er, ohne seinen Blick von der Fliege in der Hand abzuwenden. „Die kann ich nicht hergeben“, erwidert der Gefragte. „Du hast ja keine Ahnung, was ich dafür opfern musste“, ergänzt er mit gesenkter Stimme. Er nimmt David die Nymphe aus der Hand, steckt sie wieder in die Fliegendose und die Dose in die Brusttasche seiner Wathose. Mit einer Drehung wendet er sich von David ab und macht so unmissverständlich klar, jeder weitere Verhandlungsversuch ist aussichtslos. Nachdem er ein paar Schritte gewatet ist, bleibt er stehen und ohne sich zu David umzudrehen, erklärt er ihm: „Du triffst den Binder jeden Abend an dem Becken, welches von hier so rund fünfhundert Meter flussaufwärts liegt. Eine alte, umgefallene Weide liegt am nördlichen Ufer – kannste nicht verfehlen. Aber kein Wort davon, wer dir den Tipp gegeben hat. Und ich kann dir nichts versprechen.“ Er will gerade weitergehen, da holt er tief Luft und fügt hinzu: „An deiner Stelle würde ich mir diese Nymphen aus dem Kopf schlagen.“ Dann quert er den Fluss, geht am anderen Ufer an Land und setzt seinen Weg in den angrenzenden Wald fort.

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„Genau dieses Muster will ich“, ruft David erregt und zeigt mit dem Zeigefinger auf die Klemme. Der Mann dreht seinen Oberkörper einige Zentimeter in Davids Richtung. Ohne eine weitere ersichtliche Regung oder eines Wortes mustert er David einmal von unten bis oben. Unter der Schiebermütze aus Tweed blicken David zwei eisblaue Iriden ohne zu blinzeln an. Trotz des scheinbar hohen Alters und der hereinbrechenden Dämmerung wirken die Augen sehr klar, fast schon leuchtend. David muss seinen Blick abwenden.

„Dies sind ganz besondere Muster“, hört David plötzlich den Mann mit einer ruhigen, aber kräftigen und tiefen Stimme sagen. „Du kommst hierher, störst mich beim Fischen und kennen tue ich dich auch nicht.“

„Ich, ich –“, versucht David den Anfang einer Rechtfertigung. Jetzt dreht sich der Alte ganz zu David um. Er geht auf David zu, um weniger als eine Armlänge vor ihm stehen zu bleiben. „Du bist einer dieser Trophäenfischer“, stellt er zischend fest. Dabei fixiert er mit seinen Augen David weiter eindringlich. Er geht noch näher an David heran. Als der Schirm seiner Tweed-Mütze schon fast den Schirm von Davids Trucker-Cap berührt, stoppt er. David kann jetzt den Atem des alten Fischers wahrnehmen. Er riecht vor allem Pfeifentabak und nicht einmal unangenehm. Plötzlich macht der Alte eine ansatzlose, blitzschnelle Bewegung mit seinem rechten Arm. Während David noch überlegt, was gerade passiert, sieht er in der noch erhobenen Hand des Alten die Klinge eines Karambits in der Abendsonne leuchten. Von der Damaszener-Klinge läuft Blut auf dessen Handrücken. In dem Moment, als David realisiert, es handelt sich um sein Blut, schießt auch schon der Schmerz durch seinen Körper. Er stolpert ein paar Schritte nach hinten und unwillkürlich greift er nach seinem Bauch. Doch anstellte der Wathose fühlt er etwas Warmes, etwas Feuchtes. Es bewegt sich. David muss kämpfen, um sich vom Blick der blauen Augen zu lösen und um nach unten schauen zu können. Seine Wathose, die Fleece-Jacke und sein Hemd sind zerschnitten. Aus dem Loch quellen seine Eingeweide und Blut hervor, die er nur unzureichend mit seinen Händen auffängt. Der Gestank des geöffneten Bauchraums löst bei David einen Brechreiz aus. Während er noch hustend auf die Knie geht, kommt der Alte wieder näher. Er greift mit der linken Hand nach Davids Darmschlingen und zieht diese weiter heraus. Mit leicht zusammengekniffenen Augen mustert er die Innerei. Ohne dem Geröchel von David Aufmerksamkeit zu schenken, murmelt er zu sich selbst: „Mmh, gute Textur. Leider nicht so perfekt wie von Owens Frau, aber für vernünftige Muster wird es reichen.“

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31. Oktober 2021

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