Einmal am Fluss Dove fischen und das Häuschen von Charles Cotton besuchen dürfen – für viele sicherlich einer der Punkte, die es in einer Fliegenfischenlaufbahn zu erleben gilt. Für Chris sollte sich mit dem Besuch in der mittelenglischen Grafschaft Derbyshire ein lang gehegter Wunsch erfüllen. Was aber, wenn aus einem erfüllten Traum ein Albtraum wird?
Angenehm und guten Tag! Herr Piscator empfindet es als ein wenig unfreundlich, würde diese Geschichte hier vorgelegt, ohne ein Wort der freundlichen Warnung. Wir sind dabei, die dunklen Geschichten des Fliegenfischens offenzulegen. Geschichten, die Frauen und Männer der Wissenschaft zweifeln lassen und Gott infrage stellen. Sie sind die befremdlichsten Geschichten, die jemals erzählt wurden. Sie handeln von den großen Mysterien des Fliegenfischens: Fische, Fischen, das Leben und – der Tod. Ich denke, sie werden Dich erschauern lassen. Vielleicht können sie schockieren. Sie vermögen Dich sogar zu entsetzen. Also, wenn jemand von euch das Gefühl hat, er habe kein Interesse, seine Nerven solchen Belastungen auszusetzen, nun ist die Gelegenheit vorbei – nun ja, wir haben Dich gewarnt.


Piscatoribus sacrum
Da war es schließlich: Charles Cottons kleines Häuschen. Jener Charles Cotton, der einst der jüngere Freund und Fischpartner des berühmten Izaak Walton, der Autor von „The Compleat Angler“, war. Chris hatte vor zwei Jahren zu seinem fünfzigsten Geburtstag die deutsche Ausgabe – „Der vollkommene Angler“ – geschenkt bekommen. Dabei handelte es sich um die Nr. 1 von 200 Exemplaren, die für den Verband Deutscher Sportfischer e. V. gedruckt und von Dr. Martin Grünfeld signiert worden waren. Chris trug das kleine Buch bei sich, als er sich auf der steinernen Bank direkt vor dem Häuschen niederließ.
Die letzten Stunden hatte Chris den Dove befischt, der nur wenige Meter an dem Häuschen vorbeifließt. Der Tag hätte zum Fischen nicht besser sein können. Leicht bewölkt, dennoch warm und windstill. Immer wieder landeten Eintagsfliegen auf der Wasseroberfläche. Die Eintagsfliegen, die zu lange auf dem Fluss trieben, verschwanden plötzlich mit einem Blopp-Geräusch und zurück blieben nur abebbende Ringmuster im Wasser.
Vor seiner Abreise aus Deutschland hatte Chris mehrere verschiedene Fliegenmuster nach den Vorgaben von Charles Cotton gebunden. Und die „Great Blue Dun“, die er mit gelbem Bindefaden, Bären- und Kamelhaar, Hahnen- und Entenfedern gebunden hatte, brachte ihm die meiste Aufmerksamkeit unter den Fischen. Die Bachforellen schnappten nach diesem Muster ohne ein Anzeichen des Zögerns. Chris konnte an diesem Tag mit dieser Fliege mehrere Forellen über sechzig Zentimeter landen.
Sein Gesicht fühlte sich heiß an
Jetzt, an dem Häuschen angekommen, legte er seine Bambusrute auf die Bank, nahm die Rolle ab und zog die Seidenschnur in großen Schlaufen von der Spule. Als er bis zur Nachschnur gekommen war, legte er die Seidenschlaufen zum Trocknen neben sich auf die Bank.
Die Bank stand gut zehn Meter direkt vor dem Eingang des Häuschens. Die Läden an den beiden Fenstern links und rechts neben der Tür standen offen. Die Wetterfahne mit ihrem Fisch stand still. Auch wenn Chris es nicht wirklich lesen konnte, so wusste er von der Inschrift über dem Türbogen: PISCATORIBYS SACRVM – Den Fischern heilig. Direkt darunter die Jahresangabe „1674“. Zudem hatte Cotton die Initialen seines Freundes Izaak Walton und seine eigenen zu einem übereinandergeschriebenen Monogramm mittig im Türbogen verewigt. Wie viele Stunden werden die beiden Freunde in ihrem Tempel verbracht haben?, fragte sich Chris. Worüber sprachen sie? Das Fischen, Alltagsthemen, Religion, Politik oder die Damenwelt?
Chris zog seine Watweste aus und nahm aus der großen Rückentasche sein Etui mit dem Reise-Bindeset. Damit stand er auf und ging auf die geschlossene Tür zu. Dort angekommen griff er zum rechten Türgriff, ohne aber die Tür sofort zu öffnen. Chris nahm seinen Herzschlag ganz deutlich wahr und sein Gesicht fühlte sich heiß an. Schließlich atmete er tief ein, hielt für wenige Sekunden die Luft in der Lunge und mit dem Ausatmen drückte er den Türflügel nach innen auf. Er war alleine.
Er hörte das „knarzige“ Rufen einiger Vögel
In der Mitte des Raums stand ein runder, aus weißem Stein gefertigter Tisch. Chris wusste aus einem Buch über britische Angelhütten, dass es sich bei dem Tisch um einen neueren Ersatz handelte. Der Kamin sah aus, als wäre er erst vor Kurzem noch in Benutzung gewesen. Der Kaminsims war leer. Alle Fensterläden standen offen und ließen das sich langsam rot färbende Licht des Abends durch die hohen schmalen Fenster herein. Direkt am Tisch stand ein Klappstuhl. Der schwere Baumwollstoff an der Rückenlehne und der Sitzfläche war farblich mit dem olivfarbenen Metallgestänge abgestimmt. Für die Arme bot der Stuhl zwei Holzlehnen. Welcher Gegenstand passt nicht ins Bild?, fragte Chris sich selbst leise. Er nahm den Stuhl, trug ihn auf die gegenüberliegende Seite des Tischs, legte sein Bindeset auf den Tisch und klappte dann den Stuhl auf. Mit Blick durch die offene Tür nahm Chris an dem Tisch Platz.
Nachdem er den kleinen Bindestock aufgebaut und sich seine übrigen Bindesachen bereitgelegt hatte, holte Chris noch seine Ausgabe des vollkommenen Anglers hervor und legte sie ebenfalls auf die Tischplatte. Er hörte das „knarzige“ Rufen einiger Vögel. Es könnten irgendwelche Rohrsänger sein, spekulierte Chris. Er hatte sich schon des Öfteren vorgenommen, die Vogelstimmen zu lernen, aber es dann doch immer wieder aufgeschoben. Er war sich sicher, Walton und Cotton hatten ihm dieses Wissen voraus. Ob sie ihn, der auch wie sie Fliegenfischer ist, als ihresgleichen akzeptiert hätten? Chris war sich da nicht so sicher.

In den nächsten drei Stunden vertiefte Chris sich in das Binden neuer Great Blue Duns und er pausierte erst, als das stark abgenommene Licht das Erkennen der Fliege im Bindestock mühsam werden ließ. Der verantwortliche „Riverkeeper“, der ihn am Morgen empfangen und für den Tag instruiert hatte, war auf den Gast vorbereitet und hatte Chris eine Lampe bereitgestellt. „Die sieht zwar aus wie eine klassische Petroleumlampe, aber sie leuchtet mit LEDs“, hatte Tony der Riverkeeper mit einem breiten Grinsen zu Chris gesagt.
Diese kupferfarbene Lampe, die unter dem Tisch bereitgestanden hatte, stellte Chris nun vor sich auf den Tisch und schaltete sie ein. Das grelle „kühle“ Licht blendete Chris‘ Augen, die kurz vorher noch mit wesentlich weniger Helligkeit auskommen mussten. Er verschränkte seine Arme, legte sie auf die Tischplatte und platzierte seine Stirn auf dem oben aufliegenden Unterarm seines rechten Arms. „Eine kleine Pause kann nicht schaden“, murmelte Chris. Ein paar Minuten später hatte er die Augen fest geschlossen, sein Körper war ganz entspannt und sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Er war am Tisch eingeschlafen.
Eine Stimme beendete Chris‘ Schlaf. Er schreckte hoch, rieb sich die Augen und sah niemanden. Da erklang die Stimme wieder – nah und hinter ihm: „Oh, dear Lord, look what the cat dragged in.“ Chris sprang auf und drehte sich zur Quelle der Stimme hin. Er tat es so schnell und heftig, dass der Stuhl umfiel. Ungläubig starrte er auf die Person, die sich nun mit ihm in dem Raum befand und an dem Kamin gelehnt stand. Sie verbeugte sich leicht in Chris‘ Richtung.
Aber Chris wollte kein Spielverderber sein
„Wer sind sie?“, fragte Chris. Ungläubig musterte er die Person, die keine drei Meter von ihm entfernt stand. Sie war kleiner als Chris, der selbst knapp unter ein Meter siebzig war. Die Person besaß einen feinen blonden Oberlippenbart und sah leicht blässlich aus. Ihr Alter schätzte Chris auf Mitte vierzig. Wirklich auffällig war für Chris aber die Kleidung: Die Person war mit einer goldfarbenen Brokatjacke bekleidet, trug darüber einen Brustpanzer aus silbergrauem Metall und quer über den Oberkörper eine rötliche Seidenschärpe mit goldener Spitze. Um den Hals hatte sie ein weißes Seidentuch geknotet. Dazu hatte die Person eine knielange Hose aus einem Brokatstoff in einem dunkelroten Farbton angezogen. Die langen Strümpfe waren tiefgelb. Und auf den Laschen der schwarzen halbhohen Lederschuhe saßen silberne viereckige Schnallen. Am meisten wunderte Chris sich jedoch über die offensichtliche Perücke. Sie war weißlich-blond, die Haare gewellt und reichte der Person bis zu den Schultern.
„Ah, ich verstehe“, sagte Chris und klatschte sich mit seinen beiden Handflächen zum gänzlichen Aufwachen mehrmals schnell auf die Wangen. „Der gute Tony erlaubt sich einen Scherz mit mir und lässt plötzlich einen seiner Kumpel als Charles Cotton auftauchen. Dieser Mistkerl.“ Und mit einem Lachen der Erleichterung machte Chris ein paar Schritte auf den Mann zu und hielt ihm seine ausgestreckte rechte Hand zur Begrüßung hin. Der trat allerdings einen kurzen Schritt nach hinten und rümpfte dabei leicht die Nase.
„Was ist denn mit Ihnen?“, fragte Chris den Mann. Und fragte lachend: „Hat man sich in Ihrer Epoche nicht die Hand gereicht?“
„Who is he and why is he spending the night in my humble housing?“, erwiderte stattdessen der Mann und schritt gleichzeitig vom Kamin weg, hin zu dem Tisch. Er stellte den Stuhl wieder aufrecht und betrachtete dann den Bindestock und die sich darin eingeklemmte halbfertige Fliege.
„Sprechen Sie – ich meine, do you understand me?“, fragte Chris.
Der Mann blickte auf, ließ ein minimales Lächeln erkennen und sagte schließlich mit einem reduzierten Kopfnicken: „I am Charles Cotton of Beresford Dale. English poet, writer and angler; Friend of Izaak Walton and contributor to the Compleat Angler.“
Erschrocken blickte der Cotton-Darsteller zu dem Fenster
„Ja, ja, das weiß ich doch alles bereits“, meinte Chris, mehr zu sich selbst als zu dem Mann, der behauptete, er sei Charles Cotton. Aber Chris wollte kein Spielverderber sein, und da der Riverkeeper und sein Komplize sich so sehr ins Zeug legten, entschied er sich, die Scharade mitzumachen. Und so begann ein angeregter Austausch zwischen dem vermeintlichen Cotton und Chris. Sie diskutierten über Bindeanleitungen, Materialien für den Rutenbau, Wurfmethoden und die neuesten Schnurentwicklungen. Der Cotton-Darsteller zeigte sich höchst interessiert. Chris konnte sich hin und wieder ein Schmunzeln nicht verkneifen, wenn Charles ganz erstaunt schaute, bei dem, was Chris ihm von den neuesten Errungenschaften in der Welt des Fliegenfischens berichtete.
Chris hatte mittlerweile großen Gefallen an diesem Theater gefunden. Allein schon, weil sein Gesprächspartner anscheinend über so viel Insiderwissen hinsichtlich Izaak Walton zu verfügen schien. Mit großer Freude folgte er den Erzählungen und Anekdoten, die der Cotton-Imitator mit ihm teilte. „Ein großartiger Schauspieler“, dachte Chris, der von der mitreißenden und lebendigen Art des Mannes zu erzählen schwer beeindruckt war.
So vergingen die Stunden, als plötzlich die Lampe mit dem nun leeren Akku erlosch. Erschrocken blickte der Cotton-Darsteller zu dem Fenster links des Kamins. Noch lag das Häuschen im Dunkeln, aber in der Ferne war der Beginn der Morgendämmerung auszumachen.
„My apologies“, sagte der Darsteller und verbeugte sich leicht in die Richtung von Chris. „Our time is up. I must take my leave, now. I bid thee farewell.“
In diesem Moment verlor das Gesicht des Mannes jeglichen Ausdruck von Freundlichkeit
Erstaunt über dieses abrupte Ende und enttäuscht über die vielen offenen Fragen, die Chris noch gerne gestellt hätte, versuchte er, Tonys Komplizen davon zu überzeugen, noch etwas länger zu bleiben.
Dieser hatte sich zum Fenster gedreht und sah weiterhin durch das Fenster hinaus, in die Richtung, wo sich am Horizont ein dünnes orangerotes Band unter den tiefblauen Himmel schob. „Are you absolutely sure that you want to proceed with our conversation?“, fragte der Mann Chris, ohne ihn dabei anzusehen. „Is it what you really want and what your heart desires?“
Ohne zu zögern sagte Chris: „Yes, more than anything else.“ Der Mann drehte sich jetzt zu Chris um, fixierte ihn mit seinen dunkelgrauen Augen und kaum hörbar für Chris fragte er: „Is it, indeed?“
In diesem Moment verlor das Gesicht des Mannes jeglichen Ausdruck von Freundlichkeit und die Mimik nahm etwas Hartes, nahezu Böses an. Und plötzlich, für den Bruchteil einer Sekunde, wurden die Haut- und Muskelschichten des Gesichts durchsichtig und gaben den Blick auf den Schädel des Mannes mit leeren Augenhöhlen frei.
Chris blinzelte und noch bevor sein Körper mit einem Adrenalinstoß auf die unvorhergesehene Veränderung im Gesicht seines Gegenübers reagieren konnte, schaute er wieder in dasselbe freundliche Gesicht. Das Gesicht, mit dem er sich in den letzten Stunden so angeregt unterhalten hatte. Seine anfängliche Irritation spielte Chris herunter, indem er sich selbst erklärte, seine Sinne seien der mittlerweile merklichen Übermüdung zum Opfer gefallen. Außerdem waren die Lichtverhältnisse ohne das Licht der Lampe weit von optimal entfernt.
„Of course – I would love to“, antwortete Chris.
„In this case, my dear friend, I will invite you to stay,“ teilte der Cotton-Darsteller Chris mit, trat auf ihn zu und klopfte ihm mit der rechten Hand auf die rechte Schulter. Dort ließ er schließlich seine Hand aufgelegt und schaute Chris lange direkt in dessen Augen, ohne zu blinzeln und ohne ein Anzeichen, den Blick wieder lösen zu wollen. Mit einem leichten Grinsen zitierte er die ersten Zeilen eines von Charles Cottons Gedichten: „Farewell, thou busy world, and may we never meet again!“

Als die Sonne kurz über dem Horizont stand und die vielen Tautropfen auf den Wasserpflanzen und Gräsern zum Funkeln brachte, erreichte Tony, der Riverkeeper, die Bank vor Cottons Häuschen. Er sah die Sachen von Chris auf der Bank liegen, die dieser am Abend zuvor dort abgelegt hatte. Da er Chris noch nicht entdecken konnte, vermutete er ihn in dem Häuschen. Wahrscheinlich schlafend. Die offene Tür sprach aber nicht unbedingt für diese Annahme, überlegte Tony.
In wenigen langen Schritten war er an der Tür und rief nach Chris. Er bekam keine Antwort. Ohne länger zu warten ging er in das Häuschen hinein und schaute sich um. Es sah fast so aus, wie er es für Chris vorbereitet hatte. Der in der Mitte stehende Tisch, daran angelehnt der zusammengeklappte Stuhl. Die Lampe, die jetzt auf dem Tisch stand. Nur der Bindestock, das Bindewerkzeug und -material waren ein Indiz für Chris‘ Anwesenheit. Von Chris selbst sah Tony weiterhin nichts. Er rief Chris schließlich auf dem Handy an.
„Und hier haben wir Cottons Tempel.“ Mit einer ausladenden Bewegung seines linken Arms wies Tony in die Richtung des Häuschens. Sein Gast an diesem Tag strahlte vor Freude. „Warum geben sie mir nicht ihre Fische und ich nehme die Forellen schon mal aus? In der Zwischenzeit lassen sie den Geist des Tempels auf sich wirken. Ich habe ihnen auch eine Lampe für später hingestellt.“
Der Gast nickte nur und ging gleich auf die Tür zu. Nachdem dieser in dem Häuschen verschwunden war, schaute Tony dem Gast noch hinterher – länger, als es in solch einer Situation angemessen gewesen wäre. Er hatte gegenüber dem Gast kein Wort über Chris verloren. Tatsächlich hatte Tony in den letzten fünf Jahren niemals mehr über Chris gesprochen. Seine Überlegungen zu Chris‘ unerklärlichem Verschwinden behielt Tony weiterhin für sich.

